Mit der Schüssel zum Mont Viso
Dienstag, 14. März 2000
Es muss ½ 7 Uhr sein, das ist mir auch ohne Wecker klar. Die Sonne blitzt am l´Hongrie, der zuverlässigen Thermikquelle nahe dem Flugplatz von Sisteron vorbei, durch das Fenster unserer Unterkunft auf dem Campingplatz des Segelflugplatzes Vaumeilh wie der Flugplatz von Sisteron-Thèze auch nach dem nächstgelegenen Ort genannt wird und verkündet den Beginn eines neuen Flugtages.
Es ist kein toller Flug zu erwarten heute. Gestern, ja gestern mit der ASW 22, meiner „Prinzessin“, das war ein Flug, da war abends beim après vol, die Begeisterung über das Erlebte überschwänglich. Heute dagegen, erwartet mich ein simpler Einweisungsflug mit Gerhard. Ein bisschen rund um den Platz fliegen, vielleicht ein kleiner Ausflug zum 30km entfernten Parcour, das ist das übliche Programm für eine erste Einweisung in Sisteron.
Briefing um ½ 11, nichts besonderes zu erwarten, Thermik im niedrigen Gelände bis 1800m, im „moyen relief“ bis 2400 und in den hohen Bergen rund um Briancon und Barcelonnette bis 2600 m mit Wetterverschlechterung für morgen. Na dann, bringen wir´s hinter uns.
Der TWIN-Astir steht ziemlich weit vorne in der etwa 80 Flugzeuge zählenden Startreihe, genauer gesagt als Nummer zwei hinter der ASW 22 mit dem Wettbewerbskennzeichen VV, die wie fast immer an der Spitze zu finden ist. Um ½ 12 Uhr verliert Herby, der Pilot der VV die Nerven und bittet um die Schleppmaschine. 5 Minuten später sind auch wir in der Luft. „Au Trainon sil vous plais" und10 Minuten später klinken wir kurz vor dem Erreichen des Trainon aus und legen den TWIN in eine steile Linkskurve. Mit 1 ½ m/s schwingen wir uns auf 1900 m über dem Meeresspiegel. Die Luft ist diesig. Der Authon, nur wenige Kilometer entfernt, ist kaum auszumachen. Im Norden scheint die Luft klarer und die Wolken höher zu sein. Also wählen wir einen etwas unüblichen Weg um aus der feuchten Luft des Durancetales in besseres Wetter zu gelangen. die Montagne de Jouere hilft uns auf 2100 m, die Tête Grosse auf 2300 m.
Beinahe von Minute zu Minute verbessern sich die Flugbedingungen. Die Luft wird glasklar und fühlbar lebendiger. L´Aiguillette empfängt uns mit quirliger Luft und starkem Steigen. In 3100 m bietet sich der Weg nach Barcelonnette förmlich an. VV meldet sich schon vom Grand Berard, wir peilen die Grande Séolane an. Dort angelangt zwingt uns ein eng dimensioniertes Aufwindfeld zum Kurbeln neben der gewaltigen Felswand.
Wir sind nicht allein, Klaus ist mit dem Ventus genau gegenüber in den Kreis eingestiegen. Unvergesslich prägt sich das Bild dieser schneeweißen Superorchidee vor der braun-weißen Felswand ein. Kein Foto kann diesen Anblick so wiedergeben, wie wir ihn empfinden. Augenblicke später richten wir in 3200 m auf und überqueren das Tal in Richtung Grand Berard. Während des langen Gleitfluges wandern meine Gedanken zurück zu einer Gelegenheit, die mich dieses Tal von einer ganz anderen, gefährlichen Seite kennen lernen ließ.
Es war kein schlechter Tag, der mich daran erinnern sollte, dass unser Sport nicht ungefährlich ist, dass auch bei größter Vorsicht ein Restrisiko unvermeidlich ist. Der Parcour ging nicht so gewaltig wie an vielen Tagen zuvor. Ohne große Bedenken flog ich von der Dormillouse zur Grande Séolane und als sich dort kein brauchbarer Aufwind fand, weiter zum Chapeau de la Gendarme. Dort kam ich in „ungemütlichen“ 1700 m an und suchte, nun schon leicht beunruhigt, nach brauchbarem Steigen, dass sich aber auch nach längerer Zeit nicht einstellen wollte. Mal hoch auf 1900 m dann wieder absinkend auf 1700 m wagte ich nicht den Sprung hinüber zum Grand Berard, der eine prächtige Wolke zeigte. Aus früheren Flügen wusste ich, dass der Einstieg dort unter 1800 m schwierig ist und die Landung in Barcelonnette zog ich nun gar nicht gerne in Betracht.
Da sich die Situation nicht verbesserte, sondern eher schlechter zu werden drohte – ein Doppelsitzer, der sich einige Zeit etwas tiefer an derselben Stelle aufhielt wie ich, flog schon zurück zur Landung – beschloss ich auf demselben Weg zurück zum Parcour zu fliegen, auf dem ich hierher gekommen war. Natürlich war mir bewusst, dass eine Außenlandung in Selonnet oder Espinasses wahrscheinlich war und so suchte ich unablässig nach möglichen Thermikauslösern, die mir möglicherweise aus der Misere heraushelfen könnten.
Eng an die Hänge auf der Südseite des Tals geschmiegt, fiel der Blick ein ums andere mal auf die Nordseite des Tals, das führte schließlich zu einer verhängnisvollen Fehlentscheidung. An der engsten Stelle des Tals brannte die Sonne auf der gegenüberliegenden Seite mit voller Kraft auf die Felsen, dort musste doch der rettende Bart zu finden sein, also nichts wie rüber.
Nur eine Minute später bereute ich diesen Entschluss zutiefst. Nicht nur kein Aufwind, sondern bodenloses Fallen empfing mich am Fuß der Tête de l´Aupet. Nur die sofortige Umkehr konnte mich vor einem Desaster retten, aber das Fallen wollte nicht aufhören, der Talboden kam mit rasender Geschwindigkeit näher. Wenn sich daran nichts änderte war eine Landung in völlig ungeeignetem Gelände unvermeidbar. Ich zwang die ASW 22 schneller und noch schneller zu fliegen.
Eine halbe „Ewigkeit“ raste die VV mit über 220 km/h zurück Richtung Flugplatz Barcelonnette. Endlich, endlich, der Flugplatz war schon in Sicht, ließ das Fallen zumindest soweit nach, dass ein geordneter Anflug mit den letzten noch verbliebenen Höhenmetern möglich wurde. Mit einem leichten Quietschen berührte das Doppelfahrwerk den Asphalt der Piste 27 von Barcelonnette und nur ganz langsam ging der Puls wieder auf normale Werte zurück.
Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, erklärte mir der Chefpilot von Barcelonnette, wie diese meteorologische Fliegerfalle zustande kommt und im nachhinein war mir dann schon klar, dass ich nur mit knapper Not und einer Portion Glück diese Situation ohne Schaden überstanden hatte. Doch zurück zum Mont Viso Flug...
Suchend gleiten die Augen über das Relief des mächtigen Grand Berard um möglichst frühzeitig Flugzeuge zu erkennen, die uns das Zentrum der aufsteigenden Luft anzeigen können. Da, rechts vor der Spitze kreisen schon zwei weiße Vögel. Wir gesellen uns dazu. Erstmals sind alle Zeiger am oberenAnschlag festgewachsen.
3700 m, was tun mit dieser königlichen Höhe? Funksprüche aus der Gegend von St. Crépin und Briancon machen uns mutig. Wir wollen weiter nach Norden. Voraus, noch weit entfernt, lockt der Col d´Izoard. Weiter rechts ragt die gewaltige Pyramide der Mont Viso aus allen umgebenden Bergen heraus. Seit sechs Jahren versuche ich jedes Frühjahr an diesen Giganten heranzukommen aber die Schneelage im März hat dieses Vorhaben regelmäßig unmöglich gemacht. Dieses Jahr liegt wenig Schnee. Ein verwegener Gedanke schleicht sich auf Samtpfoten heran. Sollte es dieses Mal möglich sein, nicht mit dem Supergleiter ASW 22, sondern mit dem behäbigen TWIN-Astir, der im Verein den Spitznamen „die Schüssel“ hat?
Am Col de Var geht es auf 3800 m hoch, noch 35 km. Am Pic de la Font Sancte (3381 m) trägt uns ein schwacher Bart auf 3950 m. Große hellbraune Flecken sind zwischen den sonst immer geschlossenen Schneeflächen zu sehen. Es könnte klappen. Langsam, katzengleich schleichen wir uns immer näher an das ersehnte Ziel heran. Über die Tête de Longet und die Tête des Toillies kommen wir dem Riesen immer näher. Noch einmal steigen wir auf 3900 m, die letzten 8 km ist die Luft völlig ruhig. Der 3851 m hohe Gipfel des Mont Viso, an dessen Fuß der mächtige Po entspringt ist von Wolkenfetzen eingehüllt. Er überragt die umliegenden Berge um wenigstens 500 m, nur wenige Meter von den schroffen Felsen des Gipfels entfernt genießen Gerhard und ich den Erfolg in vollen Zügen.
Anflug auf den Mont Viso
Der Rückweg ist leicht, mit beinahe 4000 m befinden wir uns, zumindest theoretisch im Gleitwinkelbereich von Sisteron. In der Praxis rechnet man aber mit einer Gleitzahl von 20 und damit brauchen wir natürlich schon noch den einen oder anderen Aufwind um sicher nach Hause zu kommen. Wir wählen den Weg über den Pic Saint André, besuchen noch kurz den Guillaume und gleiten dann zurück in die noch immer feuchte, diesige Luft rund um Sisteron. Nach mehr als sechs Stunden meldet sich Gerhard im „vent arrière“ für die Piste 18 und schließt diesen unvergesslichen Flug mit einer perfekten Landung ab.
Noch während ich an diesem Abend langsam in den Schlaf sinke, überkommt mich die Dankbarkeit an den Schöpfer dieser großartigen Natur so sehr, dass mir Schauer über den Rücken laufen. Dass es mir und meinen Fliegerkameraden vergönnt ist, die Erde aus dieser Perspektive betrachten zu dürfen, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten nur der Adler konnte, ist sicher kein Zufall sondern gottgewollt.